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In den letzten Tagen des Septembers 2019 sah die Welt erschütternde und unvergessliche Bilder von der griechischen Insel Chios.
Das erste war das eines verlassenen Grabes am Gipfel eines Hügels mit Blick zum Meer. Neben dem Grab der zwei Kinder standen vor Trauer am Boden zerstörte Eltern. Auf der Erde lagen Holzstücke und eine Schaufel…
Auf dem zweiten Bild sah man einen Vater, der vor kleinen weißen Gräbern ein Gebet verrichtete.
Auf einem weiteren Bild fand eine Beerdigungszeremonie statt. Vor den kleinen weißen Särgen stand ein Friedhofswärter und zwei griechische Bürger wohnten der Zeremonie bei.
Das waren die letzten Bilder einer 18-köpfigen Gruppe, denen das Recht auf Leben in Ihrem Heimatland verwehrt wurde und der letzte Ausweg in der Flucht in ein anderes Land bestand.
Die Gruppe setzte sich aus Eltern und Kindern zusammen, die in der Türkei einer willkürlichen Justiz ausgesetzt waren und somit keine Chance auf faire Gerichtsprozesse hatten. Hinzu kommen Menschen, die per Notverordnung ihren Job verloren hatten bzw. deren Reisepässe beschlagnahmt worden sind.
In der Nacht des 27. Septembers flüchteten sie mit einem Schlauchboot nach Griechenland. Nach einem plötzlichen Wendemanevör des Schleppers kenterte jedoch das Boot gegen 00.30h, das von einem Grenzgänger gesteuert wurde. Zwölf der Insassen, einschließlich der Kapitän, konnten sich das Leben das Boot.
Die Familie Isik verlor bei diesem Fluchtversuch ihren Sohn Ibrahim (3) und ihr Baby Mahir (4 Monate); die Familie Zenbil Mustafa Said (12) und Meltem (40). Kevser Sezen (58), Gülsüm Kara (8) und Mustafa Kara (6) kamen ebenso dabei ums Leben.
Das Leben für die angehende Richterin Nazir Isik und der Richterin Fatma Isik veränderte sich schlagartig nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016. Fatma Isik wurde während ihrer Schwangerschaft inhaftiert und zu sieben ein halb Jahren Haft verurteilt. Ihr Ehemann verlor seine Arbeit und fand keine sozialversicherte Beschäftigung.
Vor drei Jahren wurde der Brief veröffentlicht, welchen Fatma Isik an den bei der türkischen Zeitung „Sözcü“ tätigen Journalisten verfasst hatte. Darin beschrieb sie die schwierige Zeit mit folgenden Worten:
„Wir haben sehr gefahrvolle Phasen erlebt. Ich war im vierten Monat schwanger und musste diese gesamte bedrohliche Zeit mit meinem ungeborenen Kind verbringen. Im Schlafraum des Gefängnisses sind wir 14 verurteilte Richter und Staatsanwälte. Ich bin seit über zwei Monaten inhaftiert. Obwohl wir im Gefängnis Hunderte Inhaftierte und Verurteilte sind, ist lediglich ein Arzt für uns zuständig. Dieser arbeitete zudem nur donnerstagnachmittags. Momentan bin ich im siebten Monat schwanger, es ist meine erste Schwangerschaft. Und ich werde in Handschellen ins Krankenhaus gebracht. Ich erfreue mich über jede gute Nachricht des Arztes zum Zustand meines Babys. Ich komme nicht mal auf die Gedanken, nach der Größe, dem Gewicht bzw. dem Ultraschallbild meines Kindes zu fragen. Manchmal weine ich. Glauben Sie mir, ich mache mir über nichts Gedanken. Am traurigsten stimmt mich der Zustand, in welchem mein Baby groß wird. Wir stehen beide eine schwierige Zeit durch. Ich schreibe Ihnen diesen Brief mit der Hoffnung Gehör zu finden“.
Sie schrieb diese Zeilen in der 27. Schwangerschaftswoche. Drei Jahre später verlor Fatma Sahin ihr Kind (Ibrahim) in den Gewässern des Meeres zwischen der Türkei und Griechenland. Der nach dem Gefängnisaufenthalt geborene Mahir teilte das gleiche tragische Schicksal wie sein Bruder.
Bei diesen Schlappen, die Sie in der heutigen Ausstellung sehen, handelt es sich um die Lieblingsschlappen von Ibrahim. Obwohl er andere Schlappen besaß, wollte er immer diese anziehen. Die im Wasser durchnässten blauen Socken hat der Vater auf dem Meer schwimmen sehen und sie noch in seine Hosentasche stecken können.
Die Babyflasche gehört dem nur vier Monate gewordenen Mahir. Es war seine erste und letzte Babyflasche. Oder wie es seine Mutter sagte, die Babyflasche, die nicht einmal abgenutzt werden konnte.
Das Ehepaar Ebubekir Kara und Gonca Kara dankt Gott, dass es diese grausame Nacht voller Lebensängste im ägäischen Meer überlebt hat. Jedoch haben sie zwei ihrer drei Kinder, Gülsüm und Mustafa, verloren.
Das Ehepaar Kara schrieb über die Nacht: „Überall hörte man das Schreien der Menschen. Manche weinten, manche schrien und manche baten um Hilfe“.
Ebubekir Kara fand sich plötzlich im Wasser wieder und sah in der Nähe, wie seine Ehefrau ihr Baby hochhob.
Obwohl Ebubekir nicht schwimmen konnte, erreichte er seine Frau und sie hielten sich gegenseitig fest. Währenddessen bot Yusuf Deniz (ein ebenfalls per Notverordnung entlassener türkischer Akademiker) an, das Baby in seine Arme zu nehmen. Die letzte Stimme, die sie hörten: „Macht euch keine Sorge, Alis ist bei mir“.
Danach sahen Sie niemandem mehr vom Boot. Bis zum Morgengrauen hielten sie sich gegenseitig fest, beteten, schrien um Hilfe und hatten ständig den Gedanken im Kopf, in jedem Moment zu sterben. Als Ihre Fü.e froren und sie müde wurden, fragten sie sich, ob sie in dem Moment starben. Sie ließen sich bis zum Morgen durch das Wasser treiben. Ebubekir Kara beschrieb diese Nacht: „Wir haben den schmalen Grat zwischen dem Schicksal und dem Tod dort hautnah erlebt. Die Nacht klammerte uns“.
Am Morgen sehen Sie in der Ferne das Boot, das über Kopf auf dem Wasser schwebte. Um ihr Leben erhalten zu können, klammerten sich einige der Insassen auf der Oberfläche des Bootes. Als sie dem Tod sehr nahe waren, wurden sie plötzlich von einer Welle wieder zum Boot getragen. Ihre Freunde griffen unter ihre Arme und halfen ihnen auf das Boot. Als sie sich retten konnten, sahen sie Ihr Baby Alis noch am Leben, aber die anderen beiden Kinder waren verschwunden.
Auch die anderen Familien, mit denen sie aufgebrochen waren, waren nicht vollzählig. Es herrschte eine Stimmung von Trauer, die Köpfe wurden nach unten gesenkt. Wenig später wurden sie von griechischen Beamten gerettet und es durchzog sich die übliche Prozedur bei der Aufnahme von Flüchtlingen (Krankenhausbesuch, Polizeibesuch etc.). Gonca Kara kann bei der Schilderung der Nacht ihre Tränen nicht zurückhalten. Auf die Frage, wie viele Kinder sie habe, antwortet sie: „Drei, zwei von ihnen sind im Paradies“.
Folgende aus dem Meer gerettete Kleidungsstücke sind ebenfalls in der Kollektion des Tenkil Muesums: Das Kleidungsstück von Mustafa, dessen Mutter ihn als sehr ruhiges Kind bezeichnet, das sich gerne schick anzog. Des Weiteren das Kleidungsstück von Gülsüm, deren Mutter davon berichtet, dass ihre Tochter sehr gerne gelbe Farben trug.
Eine Brille und ein blauer Luftballon sind von den Kindern zurückgeblieben. Die blaue Farbe steht für Freiheit. Der blaue Luftballon steht für die im ägäischen Meer zurückgebliebene Freiheit, eine leblose Erinnerung…